Kartengeschichten Teil 10: Amerika als Insel – Nicholas Sansons und Alexis Jaillots Blick auf die Neue Welt (1694)

Kartengeschichten Teil 10: Amerika als Insel – Nicholas Sansons und Alexis Jaillots Blick auf die Neue Welt (1694)

Wie zwei französische Kartographen die Vorstellung von Nordamerika prägten

Paris im späten 17. Jahrhundert: Zwischen Goldglanz, Entdeckerlust und kolonialem Ehrgeiz entstehen Karten, die nicht nur Länder, sondern Weltbilder formen. Eines dieser Werke ist die „Amerique Septentrionale“ – die Karte des nördlichen Amerika, veröffentlicht im Jahr 1694 von Alexis Hubert Jaillot, basierend auf den Arbeiten von Nicolas Sanson, einem der bedeutendsten französischen Kartographen seiner Zeit.

Diese Karte zeigt Nordamerika, wie Europa es damals sah – nicht als Kontinent der Vielfalt, sondern als Bühne des Aufbruchs, der Macht und der Vermessung.

Von Nicolas Sanson zu Alexis Hubert Jaillot

Die Karte trägt zwei Namen: Sanson und Jaillot. Sanson, der Ältere, war einer der Väter der modernen französischen Kartographie. Seine Karten verbanden wissenschaftliche Präzision mit einem für die damalige Zeit revolutionären Gedanken: dass eine Karte nicht nur Schmuck, sondern Erkenntnisinstrument ist.

Nach seinem Tod übernahm Alexis Hubert Jaillot Sansons Druckplatten und führte dessen Lebenswerk fort. Er überarbeitete und ergänzte die Karten – feiner in den Linien, reicher in den Beschriftungen, klarer im Aufbau.

Bei genauerem Vergleich wird deutlich: Jaillot veränderte den Ausschnitt, fügte neue Details hinzu und verzichtete weitgehend auf überbordende Verzierungen. Während frühere Karten oft in lateinischer Sprache gehalten waren, schrieb Jaillot – ganz Kind der Aufklärung – in Französisch. Ein Zeichen des kulturellen Wandels: Geographie wurde bürgerlich, zugänglich und selbstbewusst – fern der Sprache der Kirche.

Ein Zeitalter der Aufteilung

Ende des 17. Jahrhunderts ist Amerika längst nicht mehr das unbekannte Land, das Kolumbus 1492 erahnte. Es ist eine begehrte Welt, deren Küsten, Flüsse und Städte von europäischen Mächten umkämpft werden.

Die Karte zeigt ein politisches Mosaik:

  • Im Süden dominiert Spanien mit seinem mächtigen Vizekönigreich Neuspanien, das sich von Mexiko bis in die Karibik erstreckt.

  • Die Franzosen kontrollieren große Teile des heutigen Kanada und der Mississippi-Region.

  • Großbritannien, die Niederlande und sogar Schweden besitzen kleine, strategische Enklaven an der Ostküste.

Städte wie Havanna, Mexiko-Stadt, Santo Domingo, Quebec und New Amsterdam (das heutige New York City) sind bereits eingetragen – Zeugnisse einer Zeit, in der Macht durch Seewege, Kolonien und Karten definiert wurde.

Künstlerische Strenge statt barocker Pracht

Während Atlanten des frühen 17. Jahrhunderts oft mit Ornamenten und allegorischen Figuren überladen waren, wirkt Jaillots „Amerique Septentrionale“ erstaunlich sachlich.

Nur das Titel- und Legendenfenster ist kunstvoll verziert – ein feines Barockrahmenwerk, das die Gravur adelt. Die Karte selbst ist funktional, klar, beinahe nüchtern.

Farbig markierte Grenzen zeigen politische Räume, schattierte Küsten markieren das Unbekannte. Flüsse, Gebirge und Städte sind präzise beschriftet – Vegetation dagegen bleibt ausgespart. Es geht hier nicht mehr um die Ausschmückung einer Welt, sondern um ihr Verständnis.

Das Rätsel Kalifornien

Einer der faszinierendsten Aspekte dieser Karte ist ein Irrtum – einer, der sich über Jahrzehnte hielt: Kalifornien als Insel.

In der Mitte des 17. Jahrhunderts glaubten viele Kartographen, die Westküste Nordamerikas sei von Wasser umgeben. Die großen Entdeckungsreisen der Spanier, Holländer und Franzosen hatten zwar die Küstenlinien Kanadas, der Hudson Bay und des Golfs von Mexiko kartiert, doch der Pazifik blieb geheimnisvoll.

Diese „Insel Kalifornien“ ist ein Denkmal menschlicher Vorstellungskraft – ein Irrtum, der zeigt, wie nah Neugier und Mythos in der Kartographie jener Zeit beieinanderlagen.

Ein Blick auf die Grenzen der Welt

Was auf Jaillots Karte zunächst wie ein technisches Dokument wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Spiegel seiner Epoche: ein Abbild der kolonialen Expansion, der wissenschaftlichen Fortschritte und des europäischen Selbstverständnisses.

Die Linien, die hier gezogen werden, sind nicht nur geographisch – sie sind politisch, kulturell und symbolisch. Sie markieren die Welt, wie Europa sie sehen wollte – und noch nicht, wie sie war.

Ein Stück Geschichte für Zuhause

Diese historische Karte „Amerique Septentrionale“ von Alexis Hubert Jaillot (nach Nicolas Sanson, 1694) gehört zu den schönsten Beispielen französischer Kartographie des 17. Jahrhunderts. Klar, elegant, und voller Geschichten aus einer Zeit, in der die Welt noch im Werden war.

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