Kartengeschichte Teil 4: Zwischen Stämmen, Strömen und Grenzen – Blaeus „Altes Germanien“

Kartengeschichte Teil 4: Zwischen Stämmen, Strömen und Grenzen – Blaeus „Altes Germanien“

Wie eine Karte des 17. Jahrhunderts das Bild des antiken Germaniens einfängt

Amsterdam, Mitte des 17. Jahrhunderts. In den Werkstätten der großen Kartenmacher entsteht mehr als Geografie – es entsteht ein Blick auf die Vergangenheit. Joan Blaeu widmet sich in seinem Atlas dem „alten Germanien“, einem Raum, der nie ein einheitlicher Staat war, sondern eine Landschaft aus Stämmen, Flüssen, Wäldern und Wegen. Seine Karte, um 1635 gestochen und 1647 im Atlas „Le théâtre du Monde“ veröffentlicht, bündelt antike Quellen griechisch-römischer Geografen zu einem dichten Bild: Magna Germania – das „große Germanien“ – von Belgien bis nach Polen, von Süddänemark bis an den Alpenrand.

Blaeu folgt damit der Gelehrsamkeit seiner Zeit: Antike Texte (Tacitus & Co.) dienen als Kompass; archäologisches und sprachliches Wissen fließt ein, wo die Quellen dünn werden. Das Ergebnis: eine Karte, die weniger Herrschaft als Herkünfte zeigt – ein gezeichnetes Mosaik von Stammesräumen.

Zeitliche Einordnung & Ausschnitt der Karte

Die Karte zeigt Stammesgebiete, Siedlungen, Flüsse, Gebirge, Wälder – aber keinen exakten Stichtag. Aus der Lage der Stämme lässt sich eine Datierung in die Zeit um das 3.–4. Jahrhundert n. Chr. ableiten:

  • Sueben noch nicht endgültig in den Süden abgewandert,

  • Alemannen zwischen Main und Donau,

  • Sachsen bereits als Stammesverbund fassbar (seit Mitte des 3. Jh.).

Der Kartenausschnitt reicht von Belgien im Westen bis Polen im Osten, von Süddänemark im Norden bis Norditalien im Süden. Ein Schauplatz, auf dem sich römische Grenzen, germanische Verbünde und keltische Traditionen begegnen.

Landschaft & Vegetation

Flüsse – das gezeichnete Rückgrat

Blaeu nennt und zieht die großen Ströme, die bis heute Orientierung geben: Rhein, Maas, Mosel, Ems, Weser, Elbe, Oder, Weichsel sowie die süddeutschen und alpinen Zuflüsse Main, Neckar, Donau, Iller, Isar, Inn, Mur, Drau. Bemerkenswert ist die Breite des Rheindeltas zwischen Westfriesland und Zeeland – ein Hinweis auf Küstenwandel, Landgewinn und Wasserbau über die Jahrhunderte.

Gebirge – Relief und Räume

Eingezeichnet sind u. a. Taunus, Schwarzwald, Rhön, Alpen, Fichtelgebirge, Oberpfälzer & Bayerischer Wald, Erzgebirge, Riesengebirge, Sudeten, Beskiden, Karpaten. Ein Kartenkuriosum weist Blaeu (oder seine Vorlage) als Kind seiner Zeit aus: Der Neckar verläuft scheinbar westlich des Schwarzwalds – vermutlich eine Verwechslung mit der Enz.

Wälder – der „Herkynische“ als Mythos und Masse

Über die Mitte erstreckt sich der „herkynische Wald“ – die antike Sammelbezeichnung für die zusammenhängenden Mittelgebirgs- und Waldzonen Mitteleuropas. Ab dem 7. Jahrhundert führten Rodungswellen dazu, dass dieser Waldgürtel verschwand bzw. in Inseln zerfiel.

Inseln – entstanden, verschwunden, verschoben

Die ostfriesischen Inseln fehlen (ihre Formung vollzieht sich erst um die Zeitenwende und das Mittelalter), während Ostsee-Inseln wie Rügen – seit der Steinzeit besiedelt – selbstverständlich auftauchen. Küstenlinien sind Momentaufnahmen – die Karte zeigt sie als solche.

Herrschaft & Zugehörigkeit – Räume ohne starre Grenzen

Blaeus „Germanien“ kennt keine festen Staatsgrenzen. Geringe Bevölkerungsdichte, bewegliche Siedlungskerne und fehlende Zentralgewalt führen dazu, dass Flüsse – mehr als Linien – als natürliche Grenzen wirken. Was wir sehen, sind Stammesräume, keine Staaten.

Sachsen – ein junger Name für alte Verbünde

Der Ausschnitt „Sachsen“ zeigt den westgermanischen Verbund im Nordwesten.

  • Begrenzungen: Ems im Westen, Nordsee im Norden.

  • Name: vermutlich vom Sax, dem typischen Hiebmesser.

  • Gliederung: Unterstämme wie Engern und Chauken.

  • Völkerwanderung: Teile ziehen im 5.–6. Jh. nach Britannien und in die Normandie; der Name bleibt im Stammesraum bis ins 11. Jh. präsent.

Sueben – vor der Wanderung

Die Sueben/Schwaben erscheinen als elbgermanischer Verbund westlich der Elbe bis östlich der Oder – also Nordostdeutschland/Nordwestpolen.

  • Name: „Oder-Leute“ (deutungsträchtig).

  • Verbund: u. a. Semnonen, Langobarden, Rugier.

  • Ortsdeutung: Lephana wird häufig mit Hitzacker identifiziert.

  • Abwanderung: ab dem 1.–5. Jh. Richtung Neckarraum, später bis Iberien.

Der „herkynische Wald“ – Stämme im grünen Band

Zwischen Hessen, Thüringen und Mitteldeutschland siedeln Cherusker (autonom), Thüringer, Hermunduren (südsuebisch) sowie Burgunder und Vandalen (wandalischer Kreis). Der Wald ist Siedlungsraum und Trennlinie zugleich.

Franken – vom Stammesbund zum Reich

Die Frankenwestgermanischer Verbund – sitzen in Teilen von Südhessen, Kurpfalz und Franken.

  • Grenzen: Rhein im Westen (Römergrenze, aber kein Hindernis für Beutezüge), Rhön/Fichtelgebirge im Osten, Taunus im Norden.

  • Name: gedeutet als „die Freien/Mutigen“.

  • Entwicklung: Ab 3. Jh. Zusammenschluss mit Saliern u. a.; ab 5. Jh. Gallien und später weite Teile West- & Mitteleuropas.

Alemannen – an der römischen Schwelle

Die Alemannen – ursprünglich elbgermanisch, wohl suebisch – liegen in Teilen des heutigen Baden-Württemberg.

  • Grenzen: Schwarzwald im Westen, Donau im Süden, Altmühl im Osten.

  • Kontext: Großteils südlich des römischen Limes (Provinz Germania Superior).

  • Ausdehnung: später bis Bodensee, Lech, Elsass.

Vindeliker & Rhäter – keltisch-etruskische Tradition in Raetia

Südlich der Donau bis in die Alpen spannt sich Raetia:

  • Völker: Rhäter (etruskische Herkunft), Vindeliker (keltisch).

  • Städte: Augusta Vindelicorum (Augsburg).

  • Schicksal: Romanisierung in der Spätantike, später Alemannen-Druck; Spuren im Rätoromanischen denkbar.

Boier & Noriker – Noricum als Brücke

Östlich von Inn/Donau liegt Noricum (Boier & Noriker):

  • Städte: Boiodurum (Passau), Lauriacum (Enns).

  • Entwicklung: Boier aus Böhmen verdrängt; Noricum im 5. Jh. durch Einfälle germanischer Stämme entstrukturiert.

Böhmen – ein Ring aus Gebirgen

Böhmerwald, böhmisch-mährische Höhe, Erz- & Riesengebirge fassen Böhmen.

  • Stämme (nach Tacitus): Hermunduren, Markomannen, Narister, Kotiner.

  • 6. Jh.: Slawische Zuwanderung nach Entvölkerung in der Völkerwanderungszeit.

Pannonien – römische Ordnung am Donaulimes

Die Provinz Pannonia (Ostösterreich/Westungarn) – Donau im Norden/Osten, Drau im Süden.

  • Völker: Illyrer, teils keltische Stämme (z. B. Cytni).

  • Grenze: dichter Siedlungsgürtel am Donaulimes.

  • Später: Einfälle Goten, Markomannen, Vandalen; Hunnen im 5. Jh.

Zwischenfazit: Blaeus Grenzziehung des „Hauptgebiets“ bleibt zwangsläufig unscharf – Stämme wandern, Räume überlappen, römische und germanische Systeme kollidieren. Die Karte ergänzt das klassische „Magna Germania“ um den Alpen-Donau-Raum – ein gelehrter Versuch, disparate Traditionen auf einem Blatt zu ordnen.

Randgebiete – Nachbarn und Gegenüber

  • Dänemark (Cimbrische Halbinsel): Nördlich der Elbe; der Raum fällt erst nach dem Wegzug von Angeln und Sachsen im 7. Jh. dauerhaft an die Dänen.

  • Goten: Ostgermanen im Nordost-Polen/Kaliningrad; die Weichsel trennt (auf der Karte) gotische und suebische Räume – in der Realität beweglicher.

  • Sarmatia & Dacia: Sarmatia zwischen Weichsel und Wolga (balto-germanische und sarmatische Elemente); Dacia (heutiges Rumänien) wird im 2. Jh. römische Provinz.

  • Illyrien & Italien: Illyrien östlich der Adria; Italien als römisches Kernland – wiederkehrend von germanischen Vorstößen erschüttert.

  • Gallien & Helvetien: Frankreich/Schweiz bis an Mosel/Rhein; Helvetier später mit Alemannen verschmolzen. Auffällig die dichte Rheinstädte-Kette (Argentoratum/Strasbourg, Maguntia/Mainz).

  • Niedergermanien & Belgica: Westdeutscher/Niederländischer Raum, nach Osten durch Ems, nach Süden durch Mosel gefasst; Colonia Agrippina (Köln) als städtischer Fixpunkt.

Ein Blick auf die Logik hinter der Karte

Blaeus Germania ist Gelehrtenarbeit: Er ordnet, vergleicht, synchronisiert antike Toponyme, Stammesnamen und Landschaften – wissend, dass Völkerwanderungen, Romanisierung und Namenswandel die Konturen verschoben haben. Gerade deshalb wirkt die Karte bis heute: Sie zeigt Germanien als Ideevielgestaltig, bewegt, unfertig.

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